15 Jahre Torque “Kunst am Bau”
Geschrieben von: Reinhard Karger in Glück!, in der Tat 40 JahrManche sprachen von “Hurz am Bau”. Im Frühjahr 1992 wurde auf dem Campus der Universität des Saarlandes eine sehr große, sehr schwere, sehr kontroverse und durchaus begehbare Plastik von Richard Serra aufgestellt - unter Mitwirkung von Fundamentbauern, Kränen und viel Expertise. Gewichtige “Kunst am Bau”: 246 Tonnen Roheisen - “Torque” (bzw. Drehmoment) heisst das Objekt. Die unmittelbaren Reaktionen reichten von Verblüffung bis Frustration. Andere freuten sich über die Fotomotive. Die Fotos sind aktuell - zum 15. Geburtstag. “Torque” steht und erschließt sich rasch, wenn man im Innenraum nach oben schaut.
Fotos: Steamtalks
Fotos: Steamtalks
Foto: Steamtalks
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Mehr Fotos vom Campus der Universität des Saarlandes in Saarbrücken hier.
20. Januar 2007 an 21:35
Richard Serra: Torque 1992, Saarbrücken
Werkbetrachtung durch Selbsterschließung - Mittelstufe
von Elke Ott
Leben und Werk
Der amerikanische Bildhauer und Zeichner Richard Serra, geboren 1939 in San Fransisco, studiert zunächst englische Literatur, dann Freie Kunst an der Yale University in New Haven Conneticut. Sein Geld verdient er während des Studiums als Stahlarbeiter, was möglicherweise seine zukünftige Entscheidung für den Werkstoff “Stahl” beeinflusst hat.
Bereits mit seinen frühen Arbeiten gehört Serra zu der Generation der amerikanischen Postminimalisten, deren Grundlage ein radikaler Wirklichkeitsanspruch ist und die das Kunstwerk nicht als Träger vorgefasster Ideen verstehen, sondern als Ausdruck seiner selbst. Diese Gedanken setzt Serra in seinen Arbeiten aus den 60er Jahren um, in denen die spezifischen Eigenschaften der verwendeten Materialien Gummi und geschmolzenes Blei die Form des Kunstwerks und dessen Präsentation im Raum vorgeben. Das Werk, insbesondere bestimmt durch Material und materialspezifische Formen, setzt sich aber auch immer mit dem Raum, in dem es installiert wird, sei es Museum, Stadt oder Landschaftsbereich, auseinander. Neue Beziehungen zwischen Werk und umgebendem Raum treten hervor und eröffnen “neue Bedeutungen, neue Wege des Sehens” (Serra in Loebens, S.15), von denen der Betrachter direkt betroffen ist. Wahrnehmungsirritationen enstehen, weil die Art der Präsentation bekannter Materialien im Raum den gewohnten Blick hinterfragt, aufmerksam macht auf neue, ungewöhnliche Materialqualitäten im Kontext räumlicher Positionierung. Einfache Objekte wie Quader, Platten, Röhren und Rollen aus Blei oder Gummi werden so aufeinander gesetzt, aneinander oder an eine Wand oder Ecke geleht, dass sie sich gegenseitig stützen und die physikalischen Eigenschaften des Materials und die Bedingungen der Schwerkraft eine Umkehrung der traditionellen Verhältnisse zwischen Form und Material zur Folge haben. Es findet eine Interaktion statt zwischen Kunstwerk bestimmt durch Material, Form und Raum und Betrachter, der in seinem gewohnten Sehen gestört wird. Ein künstlerisches Konzept, das noch evidenter wird, seit Serra um 1968 beginnt, sich mit dem Material Stahl auseinanderzusetzen und seine Arbeiten in der Folge großformatiger anlegt. Auch in den schwarzflächigen Zeichnungen, die seit den 60er Jahren entstehen, geht Serra dem Problem der Sinnes- und der daraus resultierenden Sinnwahrnehmung nach.
Erste begehbare Großplastiken, in denen die Kunstwahrnehmung von unmittelbaren, körperlich-physischen Erfahrungen begleitet wird, entstehen im öffentlichen Raum Anfang der 70er Jahre und sind meistens von kontroversen Diskussionen bis hin zu massiven Protestaktionen durch die anliegende Bevölkerung begleitet. Insbesondere “Tilted Arc” auf dem Federal Plaza in New York von 1981 löst heftige Reaktionen aus, was 1989 dazu führt, dass die Plastik entfernt werden muss. Auch im Vorfeld und während der Realisierungsphase von “Torque” reagiert die Öffentlichkeit in Saarbrücken äußerst zwiespältig.
Presseartikel zu Torque
Analyse und Interpretation
Die Skulptur “Torque” besteht aus sechs gewalzten, gegeneinander gelehnten Stahlplatten zu je 40 Tonnen mit den Maßen 2,81 m Breite an der Basis, 4,29 m Breite am oberen Ende und 16,79 m Höhe. In der Höhe korrespondieren die Stahlplatten mit der Giebelhöhe der beiden benachbarten Gebäude. Den trapezförmigen Zuschnitt erhalten die Stahlsegmente, hergestellt im Grobblechwalzwerk der Dillinger Hütte, um perspektvische Verzerrungen, die sich durch die Höhenerstreckung der Skulptur ergeben, aufzuheben. Als Fundament der 958.000 DM teuren Skulptur dient eine Edelstahlkonstruktion, in der die Stahlplatten fest verankert sind. Zusätzliche Stabilität erhält die Skulptur aufgrund der Sicherheitsbestimmungen einer Bauvorschift, wonach die Stahlplatten an den oberen Berührungspunkten verschweißt werden müssen und nicht, wie es Serras künstlerisches Prinzip ist, nur aneinander gelehnt werden können. Die Platten verlaufen über einem gedachten, seitengleichen Sechseck, das an drei Ecken aufgebrochen und achsensymmetrisch verschoben ist. Um die Skulptur befindet sich eine kreisförmige Bodenfläche aus Pflastersteinen mit einem niedrigen Schutzwalll ebenfalls aus Pflastersteinen angelegt. Dieser Wall hat die Funktion, den Kreisverkehr, der durch den zentralen Aufstellungsort im Eingangsbereich des Universitätsgeländes verhältnismäßig hoch ist, um die Skulptur zu leiten. Mit ihrem markanten Standort stört die Skulptur den Verkehrsfluss, was von Serra so beabsichtigt ist. Sie versperrt - auf den ersten Blick jedenfalls - das hinter ihr gelegenen Gelände, doch - bei genauerem Hinsehen - öffnet sie es auch.
Dialektisches Prinzip
Versperren und öffnen zugleich - dies ist kein Paradoxon, sondern Serras erklärtes dialektisches Prinzip, nach dem polare Aspekte im Kunstwerk zum Einklang gebracht werden sollen. Die Skulptur “Torque” (lat. drehen, krümmen) = “Drehmoment” ist beides zugleich: Sie ist versperrend, verschließend aufgrund ihrer durch Masse bedingten Größe und Starrheit, aber sie ist auch Drehung, Bewegung und Öffnung, weil sie gleichsam einer Drehtür die Besucher in des Gelände hineindreht, geradezu hineinschiebt, aufnimmt, empfängt und von hier aus in alle Richtungen verteilt.
Die Reihe von antithetischen Begriffspaaren über die Ausdrucksqualität der Skulptur lässt sich weiter fortsetzen: “Torque” bündelt und streut, sie zieht nach innen und entlässt nach außen; wirkt leicht, labil, beinahe fragil aufgrund der nur an den Kanten aneinander gelehnten Platten und ist dennoch schwer, stabil und sicher wegen der großen Masse und der im Gleichgewicht stehenden Platten.
Die Skulptur und ihre Betrachter
Dieses Spannungsverhältnis wird besonders deutlich, wenn sich der Betrachter mit dem Außen und Innen der begehbaren Skulptur beschäftigt. Außen wirkt die Skulptur aufgrund ihrer Größe und ihrer Materialqualität abweisend, bedrohlich, beinahe aggressiv, innen dagegen entsteht geschützt vor der Hektik der fahrenden Autos und der vorbei eilenden Menschen ein stiller, zur Meditation und Besinnung einladender Ruheraum. Dieser Gegensatz wird geradezu physisch spürbar durch die direkte körperliche Erfahrung beim Hinein- und Hinaustreten aus der Skulptur. Sobald man sich im Kunstwerk bewegt, es umschreitet oder hindurch geht, werden neue Erfahrungen provoziert, wird man aufmerksam auf die Wirkungen, die von dem Kunstwerk ausgehen. Sinneswahrnehmung wird für den “sehenden” Betrachter zur Sinnwahrnehmung, um so mehr, als Serra für seine Kunstwerke Standorte auswählt, die den Betrachter in seinen gewohnten Handlungen stören, Wege versperren, vorhandene architektonische und städtebauliche Strukturen hinterfragen und alleine deshalb zum Nach-Sinnen und Nachdenken über den “Störfaktor” anregen.
Die Skulptur und ihr Standort
Über den Entscheidungsprozess bei der Auswahl für einen Standort sagt Serra selbst: “Meine Arbeit (muss) sich loslösen von der bereits bestehenden inhaltlichen Bestimmung eines Ortes. Eine Methode, einer vorgegebenen Umgebung ein Element hinzufügen und hierdurch ihren Inhalt zu verändern, ergibt sich durch die Untersuchung und Aufnahme spezifischer Komponenten der Umgebung wie Grenzlinien, Ränder, Gebäude, Wege, Straßen, Gesamt-Gestalt usw. Nur so ist es möglich, einem Ort eine neue Definition zu geben und dekorative Inszenierungen auszuschließen.” (Serra in Loebens, S. 16). Eine “neue Definition” von Raum will Serra also geben, seine Skulpturen in Beziehung und in Gegensatz zu der sie umgebenden Architektur setzen. Er will mit seiner Kunst die bestehende Ordnung des jeweiligen Ortes hinterfragen und er will diesen Raum zugleich ästhetisieren, was beide Male dazu führt, dass Kommunikation über den Ort, sein Aussehen und seine Funktion angeregt werden soll. Im Falle von “Torque” wird das Kunstwerk zur zentralen Drehscheibe im universitären Treiben, zum Ort von Wahrnehmen, Denken, Kommunikation und Innehalten.
Zum Entstehungsprozess der Skulptur
Serras ortsbezogene Skulpturen entstehen nicht ausschließlich im Atelier, sondern auch in den Fertigungsanlagen der Stahlwerke und am späteren Standort der Großplastik selbst. Während der Planungsphase von “Torque” hielt sich Serra längere Zeit auf dem Universitätsgelände auf, bis er sich unter verschiedenen Alternativen für den endgültigen Aufstellungsort entschied. Erst nach der Ortsbegehung experimentiert Serra mit Stahlmodellen in einem Sandkasten, die physikalischen Tatsache der Schwerkraft berücksichtigend, verschiebt und manipuliert die Bauelemente und passt Form und Position der Stahlminiaturen dem simulierten Bodengefälle an. Bei der Anordnung und Komposition bedient sich Serra einer, bereits 1967/68 verfassten “Verb List”, die Tätigkeitswörter enthält, die die Beziehung zwischen zwei Polen implizieren (siehe Unterrichtsmaterialien). Demzufolge werden die Bauelemente der Reihe nach “verbunden, eingegraben, verdünnt, ausgedehnt, verteilt, gedreht” und so fort, bis sich Serra schließlich für die endgültige Anordnung entscheidet. Dies sind Handlungsaspekte innerhalb des komplexen Entstehungsprozesses seiner Kunstwerke, die Serra mit folgenden Worten beschreibt: “Meine Konstruktionen sind weder auf eine spezifische Absicht, noch auf vorformulierte Theorien und Ideen begründet. Experiment und Erfindung führen zu den endgültigen Strukturen. Jede Suche enthält ein Maß an Unvorhersehbarem, eine Art von Beunruhigung, ein Staunen nach der Vollendung, nach dem Abschluss einer Arbeit. Derjenige Teil einer Arbeit, der mich nach ihrer Fertigstellung überrascht, führt jeweils zu neuen Arbeiten. Man könnte von einem Lichtblick sprechen.” (Serra in Loebens, S.14) Mit diesm Vorgehen ist im Grunde der Prozess Serras Ideenfindung bezeichnet: Experimentieren und systematisches Kombinieren nach einer Art Checkliste ist verbunden mit dem Anknüpfen bzw. Transformieren von Bekanntem in eine neue Dimension hinein. Ein methodisches Vorgehen, das sich für den Unterricht im Fach Bildende Kunst nutzbar machen lässt.
4. März 2007 an 09:46
Schöne Fotos! :-)
Die Diskussion um Serra war ja noch relativ harmlos, da man so feige war, das Ding auf dem Campus aufzustellen. Die hätten das mal auf den St. Johanner Markt stellen sollen. Dann hätt’s erst die richtig guten Diskurse gegeben. Dann hätten wir “Ein Land diskutiert über Kunst” erleben können ;-)
Viele Grüße von Zippo!
10. April 2024 an 02:55
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